Der Therapeut schmeißt die scheinbar harmlose Frage in den Raum, ob jemand seine inneren Antreiber kennt. Ups – innere Antreiber – Du musst jetzt sofort deine inneren Antreiber identifizieren! Ich rufe von der Kommandozentrale aus nach innen und bitte um Mithilfe.
Alle verpissen sich wie die Kakerlaken wenn das Licht angeht. Einige haben gerade noch Zeit im Verschwinden den „hawaiianischen Gruß“ (Insiderwitz, der auf eine andere Geschichte zurückgeht, an manchen Orten sagt man auch Stinkefinger) zu zeigen. Keine Kooperation. Mach doch deinen Scheiß alleine! So! Und nun sitze ich wieder da.
Der Therapeut schaut zum dritten Mal in die Runde: „Keine Ideen?“ fragt er. In meinem Kopf hämmert es: „Du musst jetzt sofort deine Antreiber finden!!!“
Mehr kann ich nicht denken und der Blutdruck fühlt sich wie immer als erster angesprochen. Relativ lustlos schlägt er ein paar Takte mehr an.
Der Therapeut versucht die Spannung etwas aufzulockern und fragt: „Wie steht es denn mit dem Leistungsdruck? Wer in ihnen könnten denn dafür verantwortlich sein?“
Während die Teilnehmer der Gruppe betreten auf den Boden zu ihren Füßen schauen, imaginäre Fliegen an tadellos weißen Wänden zählen oder Wattewölkchen nachsinnen, höre ich innen ein verlegenes Pfeifen. Der Verursacher ist nicht zu identifizieren. Zum Kotzen dieser Druck in dem man nicht mehr klar denken kann, nur noch versucht zu funktionieren und das bei so einer Lappalie.
Ein Teilnehmer erbarmt sich und meldet den „Kontrolletti“. Mein Dank wird ihm ewig nachschleichen – also dem Teilnehmer-, denn nachdem mein Verstand nun diesen hingeworfenen Brocken aufnimmt, können ihm auch selbst eigenen Antreiber einfallen.
„Nörgler“ rufe ich, froh endlich auch einen Betrag geleistet zu haben. „Sie haben einen Nörgler in sich?“ fragt der Therapeut interessiert und nickt in einer Art, die gleichzeitig Anerkennung und Bedauern ausdrückt. „Ja“ bestätige ich und wundere mich etwas über seine Reaktion. Auch bei den anderen fällt langsam der Groschen, was sie benennen sollen. Deshalb purzeln jetzt die Begriffe nur so.
Der Therapeut kommt kaum mit dem Notieren hinterher. „Kritiker, Anerkennungsjunkie, der Kreative, der Genießer, der Zweifler, der Fürsorgliche, der Harte, der Ja-Sager, der Ängstliche, der Einsame, der Ironische, der Perfektionist.“ Dem Therapeuten tun anscheinend die Finger weh vom Schreiben, denn er gebietet dem Redefluss der Teilnehmer endlich Einhalt.
Den Perfektionisten – den kenne ich auf gut. Doch bevor ich drinnen mal nachfragen kann, sagt der Therapeut, dass er einen Freiwilligen sucht, der seine Antreiber mal in den Raum stellen will.
Ich kann gar nicht so schnell reagieren, wie plötzlich meine kleinen Kakerlaken aus ihren Verstecken schießen und mich in den Mittelpunkt der Runde stellen. „Prima“, denke ich. Auf euch ist Verlass.
Der Therapeut freut sich, jemanden gefunden zu haben und meine Antreiber formieren sich. Der Kontrolletti drängelt sich vor, als der Therapeut sagt, dass ich mir für jeden Antreiber einen Menschen aus dem Publikum holen soll, der nun bildlich für ihn im Raum steht.
Der Kontrolletti ist total begeistert, einen kolossal passenden Avatar gefunden zu haben, der in Körperhaltung sowie ganzer Ausstrahlung perfekt zu ihm passt. Besonders sein durchdringender Blick, der in Sekundenschnelle alle Fehler entlarvt, gefällt. Er steht dicht bei mir, denn Kontrolle muss jederzeit, überall, an jeglichem und jedem geübt werden.
„Ich will auch!“, schreit der Nörgler, dem das Spiel gefällt. Er sucht sich seinen passenden Avatar und bleibt auch dicht bei mir, denn er muss mich ja stets und ständig, tatkräftig unterstützen.
Die restlichen Antreiber wollen auch mal raus und so findet einer nach dem anderen seinen Avatar, bis der Therapeut befindet, dass es nun reichen würde. Es gäbe ja schon fast keine Teilnehmer mehr.
Ohh… Dabei hätte ich noch einige zu bieten. Leichte Enttäuschung kommt auf. Der Therapeut fragt vorsichtig nach, wie ich mich gerade fühle, da mir meine Antreiber ganz schön auf die Pelle rücken.
Einzig die Kreativität und die Lebensfreude fühlen sich ausgeschlossen. Sie stehen weit hinter den anderen Dränglern. Der Therapeut macht mich auch darauf aufmerksam.
Ich solle jetzt mal meine Antreiber sortieren und dorthin in den Raum stellen, wo sie nach Meinung meines Verstandes hingehören.
Ich will mit dem Kontrolletti beginnen, der seinerseits seine Körperhaltung strafft, was die Frage beinhaltet, ob ich das wirklich tun will. Kritiker, Perfektionist, Anerkennungsjunkie, Nörgler und Zweifler folgen seinem Beispiel.
Der Therapeut fragt, ob ich sie uneingeschränkt ganz wegschicken will, da sie mich doch auch sehr weit gebracht hätten.
Während unterdessen der Harmoniesuchende und der Ängstliche hinter meinem Rücken zu kungeln beginnen, springt der Zweifler in die Bresche: „Na klar!“, sagt der Zweifler. „Wenn wir nicht gewesen wären, hättest du es im Job nicht so weit gebracht, deine Kinder
nicht so perfekt durch Kindergarten – Schulzeit und Lehre gepeitscht, Haushalt geschmissen, Hund erzogen und Ehemann mitgeschleift.“
Der Grübler sinniert über die Worte des Zweiflers und gibt ihm letztendlich Recht.
Lebensfreude und Kreativität stehen immer noch ganz bedröppelt abseits. Der Therapeut macht mich auf die Situation aufmerksam. Er fragt, was mir denn im Leben gerade am meisten fehlt. Der Ironische sagt: „ Ein Lottogewinn du Vollpfosten, damit uns alle am Arsch lecken können!“ Alle anderen Antreiber schauen sich anerkennend an und nicken.
Der Verstand schüttelt den Kopf und wählt die Lebensfreude aus. Ungläubig fragt der Therapeut nochmal nach, ob ich die richtige Wahl getroffen hätte.
Zweifler und Nörgler wollen sich gerade für einen Einwand formieren, den Kritiker mit einbinden. Sie finden im Kontrolletti einen perfekten Unterstützer. Keiner von ihnen hat aber mit der Lebensfreude gerechnet, die lebendig alle umkreiste, dann zum Verstand und zum Therapeuten hoppelte, um sich endlich mal Gehör zu verschaffen.
Wie es so ihre lustige Art ist, hüpfte sie umher jedoch in sicherem Abstand zu den anderen Antreibern. Da traute sie sich doch tatsächlich unter dem Schutz des Therapeuten, die anderen Antreiber bloßzustellen. Trotz deren Lebenserfolges ließ sie nicht unerwähnt, dass die Antreiber ganz schön Schindluder mit dem Körper getrieben hätten. Sie wüsste, wovon sie redete.
Als Beispiel führte sie die Ohren an, welche das innere Gezeter und die äußeren Geräuschimmissionen zum Anlass für ein unablässiges Klingeln nutzten. Der Therapeut meint, dass das in der Fachsprache Tinnitus heißen würde.
Die Lebensfreude wurde nicht müde, weiter zu erzählen. Fragt doch mal die Augen, die ihre Sehkraft schwächen, nicht nur weil sie schon so alt sind, sondern auch weil sie sich vor dem Elend da draußen verschließen wollen.
Und natürlich, wie sollte es anders sein, sprach sie den Blutdruck an. Der fühlte sich mal wieder gesehen und produzierte erhöhten Herzschlag, eine beiläufige Hitzewelle für den Körper und regte noch schnell eine Migräne an, die die Lebensfreude gerade noch rechtzeitig stoppen konnte.
Der Therapeut stellt sich mit mir abseits aller Antreiber vor eine imaginäre Grenze. Ich solle mir den „Haufen“ dort drüben anschauen. Es beginnt zu wuseln. Das dort – also meine Antreiber – wären alle meine „inneren Kinder“, sagt der Therapeut bedeutungsvoll und, wie ich feststellen muss, nicht ohne eine gewisse Schadenfreude.
Denn bei dem Wort „Kinder“ beginnt das Gestänkere, Geschubse, Getobe untereinander. Ein ruppiger Haufen, muss ich feststellen. Dann sagt der Therapeut bestimmt, dass ich nicht immer gleichzeitig mit allen jonglieren bzw. mich auseinandersetzen muss.
Er redet immer von „Kindern“ – ich würde sie eher „Terroristen“ nennen. Jeder von ihnen mit einer eigenen, besonders schlagkräftigen Waffe ausgerüstet.
Ich soll mich nun auf die andere Seite der imaginären Grenze stellen. „Wie fühlt sich das an?“ Puh – Erleichterung tritt sofort ein, dem dritten Weltkrieg meiner „Kinderterroristen“ entkommen zu sein. Bei denen herrscht Enttäuschung, dass jemand ihr trauriges Spiel entlarvt hat.
Ich soll mir jetzt ein einziges Kind über die Grenze holen. Nur das, was ich jetzt gerade am dringendsten bräuchte. Ich betrachte den Haufen und wähle ganz klar die Lebensfreude. Die kommt total glücklich zur Grenze gehoppelt. Sie ziert sich noch, diese zu übertreten als würden sie auf der anderen Seite Stromstöße erwarten. Drei Worte will sie von mir hören, bevor sie dann rüber macht: „Komm bitte zu mir“, sage ich und sie hüpfte trotz der vier Worte freudig herüber.
Der Therapeut erklärt meinem Verstand nochmal in aller Deutlichkeit, dass auf dieser Seite der Grenze der „Erwachsene“ wohnen würde, der jederzeit nur auf das innere Kind zurückgreifen braucht, welches für die jeweilige Situation von Nöten wäre.
Ich bin so was von erleichtert nicht mehr mit allen „Terroristen“ meines Seelenlebens gleichzeitig agieren zu müssen, dass ich augenblicklich noch die Motivation zur Lebensfreude dazu hole.
Gemeinsam wecken sie die „Kreative“ auf, die wie die Regentrude wohl schon gefühlte 100 Jahre verschlafen hat und fast verdorrt wäre. Ihr habt ihr meine Texte zu verdanken und, na ja, den anderen wohl auch, denn worüber hätte ICH denn sonst schreiben sollen.
Erschöpft von so viel Mitarbeit und Erkenntnis rauschen alle zum Mittagessen ab.
Bin gespannt, wie es weiter geht mit uns!